Blick auf Berge, 1942

Einführung
der Psychologie in die Medizin

Diese Verschränkung von Praxis und Theorie ist im ärztlichen Berufe so greifbar und aus sittlichen und ökonomischen Zusammenhängen so unausweichlich, daß wir der Anknüpfung an gerade diesen Beruf dankbar sein dürfen. Hier ist es den meisten gar nicht freigestellt zu wählen, ob sie nur Tatsachen feststellen oder nur Tatsachen herbeiführen. Der Arzt hat immer sowohl etwas zu ermitteln als auch etwas zu bewirken. Das ist auch der Grund, warum die sogenannte psychosomatische Medizin sich nicht als einfaches Hinzufügen eines psychischen Tatsachengebietes zu dem physischen erledigen läßt, und warum sie so viel mehr Staub aufwirbelt als sonst die Hinzukunft eines neuen positiven Wissenschaftsbereiches oder Behandlungsverfahrens. Denn die historische Situation teilte dem psychischen Bereiche die Subjektivität, dem physischen die Objektivität zu. So unrichtig das nun schließlich ist, so wird doch auch im Mißverständnisse in der Einführung der Psychologie vornehmlich die Einführung des Subjektes geahnt oder gespürt. 1

Wenn man nun Kranke behandelt, die nachweisbare organische Veränderungen (sei es der Funktion, sei es der anatomischen Struktur) haben, so entstehen fast immer Konflikte, sobald die Behandlung auf das Gebiet der Psychogenese übergeht. Diese Situation wird umso häufiger, je mehr wir die Tiefenpsychologie nicht auf Psychoneurosen beschränken, sondern bisher als rein organisch betrachtete Kranke tiefenpsychologisch beurteilen und behandeln. [...]

Die Ausdehnung des psychoanalytischen Prinzips auf Organleiden bringt aber die Frage des Denkens und der Begriffsbildung wieder zum Vorschein. Und diesmal so, daß die Gedankenbildung im Patienten und die in der Medizin gemeinsam unter Kritik gestellt und umgebildet werden müssen. Wenn dem Kranken die Frage aufgedrängt wird, ob seine Arbeitsunfähigkeit nicht die Folge seines Magengeschwürs, sondern umgekehrt sein Magengeschwür die Folge seiner Arbeitsunfähigkeit sei, dann wird das nicht nur eine Reformation seiner Gedanken, sondern auch eine Revolution der Medizin bedeuten. Beide müssen sich neu überlegen, was eigentlich eine Arbeitsunfähigkeit und was eigentlich ein Magengeschwür ist. Wenn jene Umkehr des Kausalzusammenhangs recht hat, dann müssen wir uns Krankheit, Welt und Mensch anders als vorher denken und erklären. 2

Das Unternehmen, die Psychologie in die Medizin einzuführen, besteht nicht nur darin, daß man die kleinere Gruppe der seelischen Erkrankungen, etwa Hysterie, Zwangsneurosen oder Psychosen als seelische studieren muß. Dies ist immer getan worden. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob jede Krankheit, die der Haut, der Lunge, des Herzens, der Leber und der Niere auch von seelischer Natur ist. 3

Jedoch glaube ich, daß in dem Thema Psychologie und Medizin doch noch etwas anderes steckt, was erregender und allgemeingültiger ist. Wenn es nämlich so steht, daß jede Krankheit sowohl einen lebensgeschichtlichen Wert wie Unwert enthält, wenn es so ist, daß ich meine Krankheit sowohl bekomme wie mache; daß sie eine Lösung eines Konfliktes ist, wenn auch keine gute; wenn der pathologische Vorgang ein Objekt ist, das ein Subjekt enthält; wenn, um es noch einmal im Beispiel zu sagen, eine Angina pectoris, ein Herzmuskelschaden nur eine Übersetzung und materielle Darstellung eines Versagens in der Liebe, einer Angst durch Schuld oder schuldgeborener Angst ist; wenn dies alles gilt, dann haben wir nicht nur die Psychologie in die Pathologie eingeführt, sondern mit der Psychologie auch den Gegenstand von Gefühl und Wille, die Schuld selbst, die Liebe selbst, den Haß selbst und so weiter: die Neugier, die Scham, die List, die Vernunft, das Blühen und den Untergang der Leidenschaften. Auch für die Erkenntnis der Leidenschaften hat nun die der Naivität entfremdete, die reflektierende Kultur eine Art von Wissenschaft eingeführt, und ihr Name heißt die Moral. Mit anderen Worten, der eigentliche Sinn der modernen Psychologie ist die Einführung der Moral in die Erkenntnis. 4

  1. Weizsäcker V. v. (1951) Der kranke Mensch. Eine Einführung in die Medizinische Anthropologie, abgedruckt in Gesammelte Schriften (GS), Bd. 9, S. 557
  2. Weizsäcker V. v. (1949) Der Widerstand bei der Behandlung von Organkranken. Mit Bemerkungen über Werke von Jean-Paul Sartre, abgedruckt in GS, Bd. 6, S. 427, 429
  3. Weizsäcker V. v. (1955) Meines Lebens hauptsächliches Bemühen, abgedruckt in GS, Bd. 7, S. 374
  4. Weizsäcker V. v. (1955) Meines Lebens hauptsächliches Bemühen, abgedruckt in GS, Bd. 7, S. 382

Textauswahl übernommen aus: Leitbegriffe Weizsäckerschen Denkens (Herausgeber: Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, Redaktion: Ingo Dammer, Rainer-M.E. Jacobi, Dieter Janz)