Blick auf Berge, 1942

Bipersonalität

In den 1926 gehaltenen Bildungsvorträgen "Seelenbehandlung und Seelenführung"1 stellt V. v. Weizsäcker grundsätzlich fest,
"den Einzelmenschen als ein geschlossenes System von Kräften oder Faktoren aufzufassen, [...] Alle Anthropologie kann nur noch von der ursprünglichen Verbundenheit der Menschen ausgehen [...]; der Einzelmensch ist ontologisch nicht real, er ist eine pure Abstraktion."2

Seine Mitarbeiter P. Christian und R. Haas haben diese Grundannahme der medizinischen Anthropologie Weizsäckers Ende 40er Jahre experimentell untersucht. Sie konnten nachweisen, inwiefern zwei an einer doppelseitigen Handsäge gemeinsam Arbeitende eine mechanische Zweieinheit bilden, so dass die Kraftbeiträge der Einzelnen gar nicht mehr auseinander zu dividieren sind. 3

"Der zwischenmenschliche Umgang ist nicht Ergebnis der am Einzelsubjekt verankerten Bewusstseinsfunktionen, Willensprozesse, Sinnesempfindungen, Einfühlungsakte, usw., sondern umgekehrt: der einzelne begreift sich, will sich, erkennt sich im Umgang mit dem anderen."4

In diesem Sinne sprechen sie von Bipersonalität. V. v. Weizsäcker hat den mit ihr zwangsläufig verbundenen, logischen Widerspruch bereits im Gestaltkreis – bezogen auf Wahrnehmen und Bewegen – mit dem Begriff der "Zweieinheit" 5 verbunden.

Diese Vorstellung erinnert an Goethes Gedicht "Gingo biloba" (aus dem West-Östlichen Diwan):

Dieses Baums Blatt,
der von Osten Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut,

Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin? 6

Manche Kompositionen J. S. Bachs enthalten Noten- und Melodieverläufe, deren Bedeutung erst dann hörbar wird, wenn man sie als Bild dessen wahrnimmt, was V. v. Weizsäcker und seiner Mitarbeiter als Bipersonalität/Zweieinheit bezeichnen. Dies lässt sich am Präludium in f-moll aus dem Ersten Band des Wohltemperierten Klaviers (BWV 857) aufzeigen. In ihm singen vier Stimmen.

Sie sind leicht misszuverstehen, als eine Melodiestimme, die in einer 16tel Bewegung verläuft – harmonisch begleitet von den jeweils drei anderen. Dies birgt die Gefahr erstere zu laut, die drei anderen dagegen zu leise zu spielen. Stattdessen ist jede der vier Stimmen jederzeit gleichberechtigt gegenüber allen anderen, obwohl sie derart untrennbar ineinander verwoben sind, dass sie nicht einmal klar voneinander abgrenzbar sind. Dies sei anhand der ersten zwei Takte dargestellt:

Die volle Komplexität dieses Stückes, sowie die Unterschiedlichkeit der Stimmen, welche nicht voneinander trennbar sind, ohne dass nicht Entscheidendes an ihnen selbst verloren ginge, wird sofort hörbar, wenn man mit den Mittelstimmen beginnt.

Sie bewegen sich sowohl harmonisch (im Zusammenklang) als auch melodisch (als Einzelstimme) Spannungen aufbauend und wieder abschwächend in einem Fluss ohne jeden Ruhepunkt.

Spielt man sie einzeln (zur Verdeutlichung ihres melodischen Verlaufs in etwas schnellerem Tempo) so wirken sie dennoch isoliert. Als einzelne Stimme scheint ihnen etwas zu fehlen.

Gemeinsam entfalten sie bereits eine harmonisch-melodisch ausgeprägtere Bewegung.

Dieser zweieinheitliche Gesang bekommt mit der tiefsten Stimme – auch wenn sie fast nur aus einem einzigen gehaltenen Ton besteht - den Halt in einem alles tragenden Grund.

In diese Dreieinheit ist auch die oberste Stimme eingebettet. Auch sie verlöre ihren besonderen Ausdrucks ohne die Dreieinheit der anderen Stimmen. Und umgekehrt erhalten auch sie ihren vollen Ausdruck erst durch diese vierte Sopran-Stimme.

Somit singen hier gerade nicht vier im Notentext klar voneinander abgrenzbare Stimmen. Dementsprechend notiert Bach etwas anderes! Er fügt mehrfach Notenköpfe mit zwei Notenhälsen ein – also eine Note, die zugleich zwei sind. Das ist bei ihm nicht ungewöhnlich, aber hier doch insofern bemerkenswert, als sich die Tonlängen eigentlich widersprechen! Die erste Note der 1. und 2. Stimme, ist ein gemeinsames 'f'. Aber was und wie soll der Pianist es spielen?

Als Viertel der 2. Stimme muss er sie auch während der folgenden drei Sechszehntel der 1. Stimme weiter halten. Als Note der obersten Stimme dagegen müsste er sie nach einem 16tel-Schlag verstummen lassen. Dieser Ton ist als Tonhöhe einer, als Tonlänge zwei. Schaut man sich den weiteren Verlauf dieses Präludium genauer an, so findet man bereits in den ersten zwei Takten eine ganze Reihe solcher zweieinheitlicher, sinnvoll widersprüchlicher Töne, welche so etwas wie einen bipersonalen Gesang erklingen lassen: "Fühlst du nicht an meinen Liedern, dass ich Eins und doppelt bin." (Goethe, s.o.)

  1. Weizsäcker, V. v. (1926) Seelenbehandlung und Seelenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet, in: GS Band 5, S. 67 - 141
  2. Ebenda, S. 122
  3. Christian, P. , Haas, R. (1949), Wesen und Formen der Bipersonalität, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1949
  4. Ebenda, S. 12
  5. Weizsäcker, V. v. (1940), in: GS Band 4, S.129
  6. Goethe, J. W. v.: Gedicht "Ginkgo biloba", zitiert nach dem handschriftlichen Original vom 15.9.1815, im Goethe Museum Düsseldorf