Blick auf Berge, 1942

Die biografische Methode

V. v. Weizsäckers verändertes Krankheitsverständnis, machte auch den Einsatz anderer Methoden der ärztlichen Therapie notwendig. Deren Grundlage sollte nicht nur eine möglichst genaue körperliche Diagnostik, sondern darüber hinaus die Suche nach einer Antwort auf die beiden Fragen „Warum gerade hier“ und „Warum gerade jetzt“ beinhalten. So wie Freud für die Neurosen nachgewiesen hatte, dass diese als biographisch sinnvolle Reaktion des Kranken auf Vorgänge im Unbewussten sowie der sozialen Umwelt des Kranken verständlich sein konnten, war V. v. Weizsäcker auch von einem biographischen Sinn der körperlichen Erkrankungen überzeugt. Damit rückte auch bei ihnen das ärztliche Gespräch und die Anamnese ins Zentrum der ärztlichen Therapie.

Weizsäcker begann daher auch somatisch Kranke psychoanalytisch zu behandeln. Innerhalb dieser Behandlungen und der in ihnen angewandten biographischen Methode ging es ihm jedoch nicht einfach nur um die Ermittlung psychischer Faktoren der Pathogenese – in Analogie zu den organischen – sondern eine Deutung des biographischen Sinnes einer Erkrankung im Leben des Kranken und gemeinsam mit diesem.

Mit der biographischen Methode bekommt die ärztliche Therapie insgesamt – weswegen die Psychosomatik für V .v . Weizsäcker nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zu einer anthropologischen Medizin bedeutete – ein grundsätzlich historisches und hermeneutisches Vorgehen.

„Die biographische Methode ist keine Erklärung, sondern eine Art der beobachtenden Wahrnehmung. Dabei gewinnen wir also nicht etwa neue Faktoren oder Substanzen wie etwa die früher unbekannten Strahlungen oder Vitamine. Sondern, was sich ändert, sind die grundlegenden Kategorien der Erklärung selbst. Die Einführung des Subjekts in die Methode der Forschung ist der Punkt, an dem die Verschiebung der Grundlagen einsetzt,....“ 1.

  1. Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 330