Blick auf Berge, 1942

Warum wird man krank?

Am Anfang steht die Kinderfrage des Warum. Warum wird man krank? Warum werde ich krank? Warum gerade jetzt, warum gerade hier, warum gerade so?

Dass der Mensch seine Krankheiten nicht einfach bekommt, sondern dass sie immer wieder in seine Lebensgeschichte eingewoben sind, dass also jede Krankheit auch seelische Dimensionen hat – diese Überlegungen ziehen sich durch das Werk Viktor von Weizsäckers. Nicht von ungefähr nannte er seinen ärztlichen Werdegang eine "Flucht vor der Schulmedizin".

1951 formuliert Viktor von Weizsäcker in "Der kranke Mensch. Eine Einführung in die Medizinische Anthropologie"1 drei Leitsätze, die er als Maximen einer ärztlichen Tätigkeit ansieht. Es heißt da:

"Ja, aber nicht so.
Wenn nicht so, dann anders.
Also so ist das.
Das sind drei Formeln, die ich vorschlage, um sich einmal klarzuwerden, dass sich die ärztliche Ethik ändert."

Der ersten Formel wies Weizsäcker eine zentrale Bedeutung zu:

"Den Studenten pflege ich zu sagen: 'Bisher war die Einstellung zum Krankhaften: Weg damit. Ich aber sage: Eure Einstellung zum Krankhaften soll sein: Ja, aber nicht so.'"

Die entscheidende Veränderung in der Einstellung zur Krankheit sei die, dass die Krankheit jetzt auch bejaht und nicht nur verneint wird. Wer zunächst einmal "Ja" sage, der suche nicht in erster Linie nach der Ursache, sondern nach einem Sinn. Diese Bejahung sieht die Krankheit als eine Geschichte, aus deren Kenntnis heraus sich ein: "Aber nicht so" ergibt.

Aus der ersten Maxime folgt logisch die zweite: "Wenn nicht so, dann anders." Mit dieser schlicht erscheinenden Forderung des "dann anders" stellt Weizsäcker nichts mehr und nichts weniger als die Aufgabe einer umfassenden Situationstherapie.

Damit, so sagt er einfach und lapidar, sind wir eigentlich schon fertig. Doch da ist noch dieser dritte Satz. Weizsäcker schließt mit einer fast kryptischen Bemerkung ab:

"Es kann sein, dass jemand stirbt oder dass jemand nicht stirbt, da hat man ein Wort, das heißt: "Also so ist das."

Ob Arzt oder Patient, jeder wird am Ende eine Beratung oder einer Behandlung Bilanz ziehen und sich fragen, "War das alles? War es so richtig?" Für den Arzt kristallisieren sich aus dieser Gewissensfrage viele einzelne Fragen, die die Stimmigkeit der Diagnose, die Angemessenheit der Therapie und insgesamt das Verhältnis zum Patienten spiegeln.

Für die neuere Zeit belegt Wilhelm Rimpau in dem von ihm herausgegebenem Lesebuch "Warum wird man krank?"2 anhand der Texte Viktor von Weizsäckers, warum der Körper ohne Seele nicht zu behandeln ist.

Einer Studie im New England Journal of Medicine (2001)3 zufolge leiden 800 von 1000 Menschen in westlichen Zivilisationen an Beschwerden oder Symptomen. Die meisten von ihnen kurieren sich mit bewährten Hausmitteln. 327 von ihnen suchen fachlich-medizinische Hilfe. 217 gehen zu einem Arzt, 65 nehmen komplementäre oder alternative Heilverfahren in Anspruch. 21 Kranke werden in Polikliniken behandelt, 14 zu Hause. 13 Patienten stellen sich in einer Notfallambulanz vor, und 8 werden im Krankenhaus behandelt. Nur einer von 800 Kranken wird in einem Universitätskrankenhaus versorgt.
Im Vorwort fragen Wilhelm Rimpau und sein Mit-Autor Klaus Dörner: Wie könnte die ärztliche Aus- und Weiterbildung aussehen, wenn Studierende und junge Ärztinnen und Ärzte nicht nur an Universitätskliniken ausgebildet würden, wo sie (nur) besonders seltene und schwierige Krankheiten sehen, sondern dort, wo ganz überwiegend Kranke leben und behandelt werden? Wie ist ein Gesundheitssystem zu organisieren und zu finanzieren, das diesen epidemiologischen Gegebenheiten Rechnung tragen will?

Der Literat Alfred Muschg fasste 2005 seine Krankenhauserfahrung zusammen: "Ich wünsche mir als Patient nichts weiter als einen Fachmann. Zu dem würde gehören, dass er den Menschen, bevor er ihn untersucht, wahrnimmt. Zu dem würde gehören, dass er die Grenzen seines Faches so gut kennt, dass er sich getraut, den Patienten an dieser Erkenntnis zu beteiligen. Denn diese Grenzen sind es, wo der Patient für seine Gesundheit selbstverantwortlich tätig werden kann und soll. Zum ärztlichen Fachmann, den ich meine, gehört etwas scheinbar so Einfaches, dass er sehen und hören kann; und etwas offenbar so Schwieriges, dass er sprechen lernt. Idealerweise müsste eine Sprechstunde eben dies sein: Eine Stunde Gespräch über die Krankheit, die dem Patienten etwas Bestimmtes sagen will. Dieses Gespräch ist indessen nicht nach Minuten, sondern an seiner Qualität zu messen. Findet es wirklich statt, kann es viele Medikamente und Konsultationen erübrigen."4

Auch nun, fast 70 Jahre nach dem Tod Viktor von Weizsäckers, bleibt es ein akutes Thema: Das Menschenbild der Medizin. Die Zeit ist reif für eine Besinnung. Mit der durch Viktor von Weizsäcker begründeten anthropologischen Medizin ist es möglich, den Kranken als Individuum genauso ernst zu nehmen wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden. Denn es gilt nicht Krankheiten, sondern Kranke zu behandeln. Der Artikel 1 des Grundgesetzes findet seine Anwendung für die Heilung der Medizin in der Formulierung: Die Schwachen und Kranken zu schützen ist die Würde der Gesunden.

Warum wird man krank? Ein Lesebuch.

Unter Verwendung von Originaltexten Viktor von Weizsäckers wurde dieses Buch 2008 von Wilhelm Rimpau und Bernd Hontschik im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Inzwischen ist es in der 3. Auflage erschienen und das wohl meistverkaufte Buch im Zusammenhang von Denken Viktor von Weizsäckers, der Einführung des Subjekts in die Medizin und dessen Fragen "Warum werde ich krank? Warum gerade jetzt, warum gerade hier, warum gerade so?".

  1. Weizsäcker Viktor, von: Der kranke Mensch. Eine Einführung in die Medizinische Anthropologie. Verlag: K.F. Koehler Verlag, 1951
  2. Rimpau, Wilhelm (Hrsg): Viktor von Weizsäcker – Warum wird man krank? Ein Lesebuch.
    Mit einem Vorwort von Klaus Dörner und Wilhelm Rimpau. Band 5 der Reihe medizinHuman, Suhrkamp Verlag, 2008
  3. Green LA, Yawn B, Lanier D, Dovey SM: The Ecology of Medical Care Revisited, in: New England Journal of Medicine, 2001, S.2022
  4. Rimpau 2008, S. 13