Blick auf Berge, 1942

Einführung des Subjekts

Ich glaube, daß die Biologie nicht zu einer methodischen und formalen Geschlossenheit zu bringen ist, wenn sie sich sträubt, die Subjektivität alles Lebenden in ihren Begriff und ihr Forschen einzuschließen. Die Sinneswahrnehmung mahnt uns daran, daß die Biologie es mit Objekten zu tun hat, denen ein Subjekt innewohnt. Dem wird aber z.B. der Begriff der Ganzheit noch nicht gerecht. Es kann nicht länger als richtig gelten, wenn man sagt: objektive Erkenntnis erlangen wir erst, wenn wir sie vom Subjektiven völlig reinigen. [...]

Die relative Unbestimmbarkeit des Sinnesvorganges also ist die Voraussetzung dieser neuen andersartigen Einheit, die wir die biologische nennen. Zwischen der Labilität der Elementarfunktion und der synthetischen Improvisation besteht eine notwendige und analysierbare Beziehung der Unbestimmtheit, welche den biologischen Akt garantiert. Was wir aber als Subjekt bezeichnen, das steckt in der Tat in dieser Unbestimmtheit, dem Spielraum für den schöpferischen Akt. [...] 1

Zur Einführung des Subjekts gehört sicher eine unabsehbare Arbeit der Wissenschaft; aber es gehört auch eine Haltung der Unbefangenheit gegenüber dem Kranken und seinen Erscheinungen, vor allem gegenüber seinen eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen dazu. Subjekt ist es doch zunächst sich selbst, und darum hören wir ihm so gerne zu, wenn wir begriffen haben, daß seine Erlebnisse zum Wesen der Krankheit gehören. Haben wir seine Krankheitsdeutung, seine Auffassung der Pathogenese gehört, dann, so scheint mir, haben wir oft Zutreffendes, jedenfalls aber gleich Bedeutsames erfahren wie mit den objektiven Methoden der klassischen Klinik. 2

Aber der Ausgangspunkt war doch die Krankheit als einheitliches Ereignis. Da wäre zusammenfassend zu sagen, daß die Psychogenie, im kausalen Sinne des Anstoßes, eine unbedeutende, weil zu leere Erscheinung wäre, daß aber in der biographischen Pathogenese sich aus der bloß kausalen oder bloß parallelistischen Psychophysik eine reichere strukturierte Zusammenhangslehre entwickelt. Was wie ein bloßer Anstoß oder Einbruch aussah, enthüllt sich dann als ein dramatischer Stellungswechsel in einem Zweikampf seelischer und körperlicher Erscheinungsweise; wie zwei Schachspieler scheinen sie zu ringen, was sie nicht täten, wenn nicht zu den Spielregeln die Unvorhersehbarkeit des nächsten Gegenzuges gehörte. Gerade in diesem Punkt, nämlich dem des methodischen Indeterminismus, ist die Einführung der Subjektivität der Lebewesen unvermeidlich und wesentlich wissenschaftlich. 3

Ein Beispiel: wenn jemand die vasomotorische Reaktion auf künstlich-suggerierten Schreck oder auf künstliche Freude registriert, dann treibt er nur Psychophysiologie. Wie bei einer exakten objektiven Naturwissenschaft bemüht er sich sogar, die Frage auszuschließen, welchen Sinn in einem solchen Versuch Schreck und Freude überhaupt noch haben. Angeblich dient der Versuch der Wissenschaft, und das genüge. Er genügt aber nicht, und dies gibt auch keine gute Wissenschaft. Denn hier verleugnet man die Frage nach Motiv und Ziel des Ganzen. Wenn aber jemand zu begreifen sucht, welchen Sinn dieser bestimmte Schreck, welchen Wert diese Freude haben (was auch die Vasomotoren ausdrücken), dann hat er das Subjekt eingelassen und anerkannt. 4

Die Kontingenz, das Nuneinmal-so-Sein, bleibt ein Geheimnis, in dem der Zufall mit der Ordnung sich berührt und im Beobachter die Erwartung mit der Überraschung mischt. Der Anblick lebhafter Menschen bringt es einem jeden vor Augen; wer aber die Geduld hat, wird es auch bei den Regungen der Pflanzen erfahren. Haben wir die biologischen Gesetze und Ordnungen auch eine Strecke weit erkannt - der Kanon der Ereigniskette fehlt uns doch. Die Unstetigkeit der Lebenskurve ist eine Tatsache, aber man kann sie auch erleben. Die Krise ist ein Riß, aber auch eine Berührungsstelle, wenn man ihn von oben her betrachtet. [...]

So wie die Unstetigkeit das Subjekt in seiner Existenz bedroht, so ist es die Gegensätzlichkeit, welche seine Identität in Frage stellte. Wie kann es möglich sein, daß derselbe Mensch so widerspruchsvoll fühlt und handelt, wie denkbar, daß aus demselben Stoffe Gebildete sich so vernichten müssen - so fragen wir dann. Sind wir aber selbst im Kampfe, dann verstehen wir nicht, wie wir auch nur so fragen können. Das Konvexe kann das Konkave nicht in sich fassen; der Parteiische kann das Selbst des Gegners nicht wahrnehmen. Das Subjekt ist es also wieder, welches die Entzweiung ermöglicht, aber die Entzweiung droht die Selbsteinheit des Subjektes aufzulösen. Denn wir wissen, daß es der individuellen Person mit sich selbst nicht anders ergeht; es kommt an jeden der Augenblick, in dem er mit sich selbst entzweit ist, wie mit dem Bösesten der Feinde. So sind wir Lebende gemacht. 5

  1. Weizsäcker V. v. (1940) Funktionswandel der Sinne, abgedruckt in Gesammelte Schriften (GS), Bd.3, S. 592f
  2. Weizsäcker V. v. (1941) Klinische Studien, abgedruckt in GS, Bd. 3, S. 147
  3. Weizsäcker V. v. (1939) Individualität und Subjektivität, abgedruckt in GS, Bd. 6, S. 382
  4. Weizsäcker V. v. (1949) Psychosomatische Medizin, abgedruckt in GS, Bd. 6, S. 453f
  5. Weizsäcker V. v. (1940) Der Gestaltkreis, abgedruckt in GS, Bd. 4, S. 174f

Textauswahl übernommen aus: Leitbegriffe Weizsäckerschen Denkens (Herausgeber: Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, Redaktion: Ingo Dammer, Rainer-M.E. Jacobi, Dieter Janz)