Blick auf Berge, 1942

Das Pathische

Das Ontische ist, das Pathische leidet; das Ontische ist ein Sein, hat ein Dasein, das Pathische ist überall, wo der Wortstamm des Leidens vorkommt. Leid, Leidenschaft, Pathos, Pathetik, Sympathie, Pathologie, Pathogenese. Die Krankheit, das Kranksein gehört dazu. Der Begriff des Pathischen ist nur ein viel weiterer als der der Krankheit. Nicht nur sie, aber auch sie ist ein Treffpunkt der großen, zentralen Negativität in unserem Lebensgefühl, oder, wie die jetzt führende Philosophie sagt, in unserer Existenz. 1

Das, was ich als pathische Kategorien und als pathisches Pentagramm bezeichne, ist eine Abstraktion, die ihren Wert nicht dadurch bekommt, daß sie etwas Richtiges oder Wahres erfaßt, sondern dadurch, daß sie sich nützlich auswirkt. [...]

Die fünf pathischen Kategorien sind das Will, das Kann, das Darf, das Soll und das Muß. Das pathische Pentagramm stellt im geometrischen Bilde dar, daß sie untereinander auf eine bestimmte Art zusammenhängen. Die fünf pathischen Kategorien sind in der Logik der Sprache etwas Ähnliches wie die Axiome in der Geometrie. Man kann sich überlegen, ob ihre Zahl durch Reduktion noch zu vermindern, durch Explikation noch zu vermehren wäre. Axiomatisch bliebe ihr Wesen trotzdem.

Ferner sind diese Kategorien, die wir jetzt mit den Axiomen verglichen haben, gleichsam Passionen, Affekte oder Leidenschaften, die man im Fluge festgehalten und in die Erstarrung der grammatikalischen Form gezwungen hat. [...] In der pathischen Landschaft, das heißt: in der leidenschaftlich wahrgenommenen Welt, im erlebten und zugleich gelebten Leben bleibt die Hauptsache doch, daß man nicht erstarrt, daß alles flüssig bleibt, daß der gefangene Vogel mit seinem Käfig oder der Käfig mit ihm wieder davonfliegt: Hier kommt es zur Paradoxie, denn in Kategorie, Axiom, Sprachform erscheint etwas Unbewegliches, Unabänderliches, und daher einer ewigen Ruhe des Seins doch Näheres. Wir sind darauf gefaßt, daß diese Paradoxie uns zu schaffen machen wird. Die pathischen Kategorien erscheinen hier aber von Anfang an in einem besonderen Lichte, nämlich in ihrer Anwendung auf das Menschliche oder ein menschliches Dasein. Auch darüber wäre eine kritische Diskussion möglich. Es ist das sozusagen eine Präambel, die besagt, daß wir hier und gerade nur hier Anthropologie treiben. 2

Das Dürfen ist der Ostermorgen menschlichen Daseins. Dies laut werden zu lassen ist nur der Hymnus fähig und befugt. Der Umgang damit wird als Umgehungsmanöver ausfallen. Ein Osterspaziergang oder ein Suchen von Ostereiern, die jemand versteckt hat, wäre das, was diesen Zustand am besten vorbereitet. Vom Dürfen darf man reden, sofern man vom Reden aus weitergeht, denn es hat in seiner Reine gar keine Voraussetzung, und der Umgang mit ihm hat keinen Vorgang. Was man darf, dessen bedarf man zwar, aber das Bedürfnis enthält weder die Voraussetzung noch die Rechtfertigung des Dürfens selbst.

Die Schwebelage des pathischen Menschen zeigt sich also gleich bei diesem Anfang darin, daß man das Dürfen nicht auf einen Sockel setzen kann, um es von hier aus aufzubauen und statuarisch hinzustellen. Diese Schwebelage einer Anthropologie zeigt viel Bezeichnendes von ihrem durch­ gehenden Wesen, indem sie einen Einbau in die positiven Wissenschaften geradezu verhindert. 3

Das Müssen ist der Karfreitag des menschlichen Daseins. Es ist unkatholisch, ihn feierlich zu begehen, und es ist unprotestantisch, ihn durch Fasten und Verhängen des Kruzifixes zu verbergen. Das Müssen ist viel zu schlimm, als daß man es verdrängen dürfte; aber es ist nicht so schlimm, daß man es als Mittelpunkt auszeichnen oder an die Spitze stellen dürfte. Im Müssen ist der Tod, die Notwendigkeit, die Macht und der Zwang enthalten. Wo diese hilfreich und nützlich sind, das entscheiden sie nicht selbst, sowenig wie, wo sie unangenehm, überflüssig oder böse sind. Denn sie können beides sein oder scheinen. Das Müssen ist nicht weder gut noch böse, sondern es ist gut und böse. 4

Die Hauptsache beim Umgang mit Lebewesen ist, daß wir empfänglich für ihren pathischen Charakter bleiben. Das gilt für den Forscher wie für den Arzt. Diese Empfänglichkeit ist zugleich ein Tätigsein. Man kann nicht sagen, die pathische Existenzweise sei die passive; sie ist zugleich ebenso eine aktive, und es hängt nur von der Beleuchtung ab, ob wir diese pathische Existenzweise jetzt eben passiv oder aktiv nennen. Denn letzten Endes ist das Pathische nur ein Ausdruck der schlechthinnigen Abhängigkeit alles Lebenden von einem Grunde, der selbst nicht Gegenstand werden kann - des Grundverhältnisses. Nun haben wir, um das Pathische zu erläutern und dem Ontischen gegenüberzustellen, einige besondere Arten aufgestellt, die sicher gerade der Existenzweise der Lebewesen abgelauscht waren: das will, darf, kann, soll, muß u. dgl. Bezeichnend ist hier zunächst eine unbeschreibliche Unruhe. Eine Ordnung, Regel oder System fehlen noch ganz. Es wäre unzutreffend, diese Unruhe als Bewegung im mechanischen Sinne zu fassen, denn ein Lebewesen kann sich lange Zeit unbewegt verhalten. Der tiefere Grund der pathischen Unruhe ist der, daß ein Lebewesen nicht in sich ruht, sondern zugleich dasselbe und doch ein sich änderndes, also ein werdendes Wesen ist. Diese seine Antilogik macht seine Unruhe aus. Diese widerspruchsvolle Unruhe erscheint nun bei jeder Begegnung, jedem Umgang von Lebendem mit Lebendem. 5

  1. Weizsäcker V. v. (1949) Begegnungen und Entscheidungen, abgedruckt in Gesammelte Schriften (GS), Bd. 1, S. 289f
  2. Weizsäcker V. v. (1956) Pathosophie, abgedruckt in GS, Bd. 1, S. 60f
  3. Weizsäcker V. v. (1956) Pathosophie, abgedruckt in GS, Bd. 1, S. 63
  4. Weizsäcker V. v. (1956) Pathosophie, abgedruckt in GS, Bd. 1, S. 68
  5. Weizsäcker V. v. (1946) Anonyma, abgedruckt in GS, Bd. 7, S. 52f

Textauswahl übernommen aus: Leitbegriffe Weizsäckerschen Denkens (Herausgeber: Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, Redaktion: Ingo Dammer, Rainer-M.E. Jacobi, Dieter Janz)